Nachhaltige Technologie für das „Schweizer Taschenmesser“ der Industrie
Ob für Matratzen oder Kühlschränke: Der Bedarf an Polyurethan weltweit wächst. Die ungarische MOL-Gruppe will hier einsteigen und setzt bei der Herstellung des Vorprodukts Polyol auf das ressourcenschonende HPPO-Verfahren von Evonik Active Oxygens und thyssenkrupp Industrial Solutions. Dieses hat einen geringeren CO2-Ausstoß als herkömmliche Herstellungsprozesse.
Wer sich morgens in seinem Bett räkelt, nach einer Joggingrunde die Milch für den Morgenkaffee aus dem Kühlschrank holt und mit dem Auto zur Arbeit fährt, der begegnet bereits mehrfach Polyurethan. Dieser begehrte Werkstoff ist besonders vielfältig einsetzbar – von Alltagsprodukten wie Matratzen oder Sneakersohlen bis zu der Gebäudedämmung, über Beschichtungen und Lacke bis hin zur Anwendung bei Möbeln und im Fahrzeugbau.
Dabei trägt Polyurethan als robuster und belastbarer Werkstoff zur Langlebigkeit von Produkten bei – und hilft damit, Ressourcen zu schonen. Zum Beispiel:
- Bei der Isolierung von Häusern verbessert Polyurethan die Energieeffizienz und senkt den CO2-Ausstoß, denn weniger Gas, Öl und Strom müssen zur Heizung oder Kühlung eingesetzt werden.
- Als Dämmstoff in Kühlschränken verringert Polyurethan den Stromverbrauch. Durch die Kühlung bleiben Lebensmittel länger haltbar.
- Dank Polyurethanen in Autositzen und ‑karosserien lassen sich leichtere Fahrzeuge bauen, was den Kraftstoffverbrauch senkt. Außerdem sorgen diese für Komfort und Sicherheit, indem sie die Autoinsassen von Straßenlärm und Hitze isolieren und bei einem möglichen Unfall den Aufprall dämpfen.
Nachfrage nach energiesparenden Leichtbaustoffen steigt
Nicht verwunderlich ist es daher, dass die Nachfrage nach dem Werkstoff seit vielen Jahren stark wächst. „Der globale Polyurethanmarkt wächst schneller als die Weltwirtschaft“, bestätigt Dr. Uwe Kuehner, Vice President Strategic Projects bei Evonik Active Oxygens. Hintergrund seien globale Megatrends wie Bevölkerungswachstum und eine wachsende Mobilität bei gleichzeitigen Bemühungen um mehr Energieeffizienz. In sich entwickelnden Ländern vor allem im asiatischen Raum steigt der Lebensstandard, sodass dort beispielsweise mehr Kühlschränke oder Klimaanlagen mit Isolierschichten aus Polyurethanschäumen gebraucht werden. Entsprechend wächst auch der Bedarf an Polyurethanschäumen (PU-Schäumen) für hochwertige Sitzmöbel, Autositze oder die besonders langlebigen Kaltschaummatratzen.
Hersteller weltweit bauen deshalb ihre Produktionskapazitäten für Polyurethan aus, ebenso für dessen Vorprodukte Propylenoxid und Polyol: „Polyol ist heute eines der begehrtesten petrochemischen Produkte, denn es ist der Ausgangsstoff für Polyurethan, das ‚Schweizer Taschenmesser‘ der Industrie“, sagt György Szűcs, Group Investment and Downstream Strategic Projects Director beim ungarischen Öl‑, Gas‑, Petrochemie- und Einzelhandelsunternehmen MOL. Hier rechnet man nach eigenen Angaben damit, dass die weltweite Nachfrage nach Polyolen bis 2025 um 3,4 Prozent pro Jahr wächst.
Polyolanlage in Ungarn geht 2022 in Betrieb
Ein Prestigeprojekt des Konzerns ist daher der 1,3 Milliarden Euro teure Bau eines neuen Polyolkomplexes in Tiszaújváros im Norden Ungarns, die größte Einzelinvestition in der Geschichte der MOL-Gruppe. „Die Anlage wird die fortschrittlichste, sicherste und umweltfreundlichste Technologie nutzen, die derzeit auf dem Markt verfügbar ist, um diesen vielseitigen Werkstoff herzustellen“, sagt Szűcs von MOL. „Dies ist einer unserer wichtigsten Schritte auf dem Weg zur Umsetzung der ‚Shape Tomorrow 2030+‘-Strategie von MOL. Ziel ist es, von fossilen Brennstoffen wegzukommen und somit einen nachhaltigeren Betrieb zu gewährleisten.“
Mit dem Bau der großen Polyolanlage in Tiszaújváros hat MOL thyssenkrupp Industrial Solutions (tkIS) beauftragt, ein Unternehmen für Konstruktion, Bau und Service rund um industrielle Anlagen und Systeme. Die Polyoltechnologie stammt von tklS, die Anlagenmodule des Komplexes wurden in Thailand gefertigt, auf dem Wasserweg nach Ungarn transportiert und dort wie gigantische Legosteine wieder zusammengesetzt. Im Jahr 2022 soll der am Standort von MOL Petrochemicals errichtete Komplex in Betrieb gehen und dann jährlich 200.000 Tonnen Propylenoxid in Polyole und Propylenglykole umwandeln.
Entwicklung neuer Polyoltypen
Darüber hinaus eröffnete MOL ein neues Forschungs- und Entwicklungszentrum für Polyole in Százhalombatta, rund 200 Kilometer entfernt von Tiszaújváros. Das Zentrum wird Tests der physikalisch-chemischen Eigenschaften von Polyolen sowie Labortests und Anwendungsversuche von daraus hergestellten Polyurethanschaumstoffen durchführen. Bis Juli 2022 sollen in der neu errichteten Einrichtung mindestens zehn Polyoltypen entwickelt werden.
Das Unternehmen plant außerdem eine Zusammenarbeit mit den Laboren mehrerer ungarischer Universitäten und unabhängiger Forschungseinrichtungen. Diese Kooperationen sollen dazu beitragen, die im Polyol‑F&E‑Zentrum verwendeten Methoden weiterzuentwickeln und die Wissensbasis der Universitäten zu erweitern.
Das HPPO-Verfahren: effizient und nachhaltig
Ein wesentlicher Teil des Produktionsprozesses bei MOL ist das von Evonik Active Oxygens und thyssenkrupp Industrial Solutions gemeinsam entwickelte „Hydrogen Peroxide to Propylene Oxide (HPPO)“-Verfahren. Hierbei wird Wasserstoffperoxid (H₂O₂) in einer speziellen Qualität als Oxidationsmittel verwendet: H₂O₂ reagiert unter Beigabe von geringen Mengen Dampf und Strom mit Propen, es entstehen Propylenoxid und außerdem Wasser, das biologisch gereinigt werden kann.
Dreh- und Angelpunkt dabei ist ein eigens von Evonik für den HPPO-Prozess entwickelter Katalysator. Dieser bewirkt, dass Propen mit H2O2 in großer Ausbeute zu Propylenoxid umgesetzt wird – weitere nennenswerten Nebenprodukte gibt es nicht. Das zeichnet HPPO gegenüber traditionellen Produktionsprozessen für Propylenoxid aus, bei denen Neben- und Beiprodukte in größerer Menge entstehen, die verkauft oder teuer entsorgt werden müssen. „Außerdem sind in herkömmlichen Produktionsverfahren sowohl die Investitionskosten als auch der Energieverbrauch recht hoch“, sagt Kuehner.
Vorteile der HPPO-Technologie:
- Keine Nebenerzeugnisse müssen verkauft oder entsorgt werden
- Speziell entwickelter, hoch-selektiver Katalysator von Evonik
- Geringere Investitionskosten
- Effizienter Rohstoffverbrauch
Beim HPPO-Verfahren braucht man dagegen nur eine vorgeschaltete Anlage zur Herstellung von Wasserstoffperoxid. „Der effizienteste Prozess, um aus Propen und H₂O₂ Propylenoxid herzustellen, ist unser HPPO“, fasst der Experte zusammen. „Davon sind wir überzeugt und dafür haben wir auch die Daten.“ Denn Ende 2020 hat Evonik Active Oxygens Life Cycle Assessments (LCA) durchgeführt, bei denen der CO2-Fußabdruck für verschiedene Produkte und Technologien quantifiziert wurde. Die Untersuchungen beruhen auf anerkannten Bewertungsansätzen für CO2-äquivalente Emissionen in verschiedenen Phasen der Herstellung eines Produkts („Cradle-to-Gate“-Betrachtung). Sie belegen, dass beim HPPO-Verfahren gegenüber alternativen Herstellungsprozessen von Propylenoxid je nach Standort über zehn Prozent CO2 eingespart werden.
Herstellungsprozess nachhaltiger machen
Um den Produktionsprozess insgesamt noch nachhaltiger zu machen, achtet Evonik Active Oxygens zunehmend auf die Herkunft der Rohstoffe. Denn: „Je geringer der CO2-Rucksack, den diese mitbringen, desto geringer ist dann auch das CO2-Gepäck des Propylenoxids“, sagt Kuehner.
Das Ende der Fahnenstange ist hier längst nicht erreicht. „Es gibt eine Reihe von Anstrengungen, andere Prozesse zu etablieren, um das Propen aus nachhaltigen Quellen darzustellen, etwa aus biobasierten Rohstoffen, oder auf der Basis von Altspeisefett oder Agrarabfällen“, erklärt der Experte. Beim zweiten Rohstoff, dem Wasserstoffperoxid, hat Evonik Active Oxygens die weltweiten Produktionsanlagen schon überwiegend auf Ökostrom umgestellt, der möglichst effizient genutzt wird. Weiteres Potenzial kann sich unter anderem aus der Nutzung von grünem Wasserstoff ergeben.
Auch thyssenkrupp Industrial Solutions als zweiter HPPO-Lizenzgeber richtet nach Angaben von Jürgen Schemel, Head of Technology, Innovation & Sustainability bei Petrochemicals and Polymers bei tkIS den Fokus darauf, den Energiefußabdruck von HPPO weiter zu reduzieren, indem „der Rohstoffverbrauch optimiert und maßgeschneiderte integrierte Anlagenkonzepte in einem ganzheitlichen Ansatz entwickelt werden“. Kreislaufkunststoff sei eine der Initiativen von tkIS auf breiterer Ebene, die sich nicht nur auf HPPO und Downstreams konzentriere.
Auf dem Weg zu einer grünen Wertschöpfungskette
Wie für Evonik und tklS sind auch für MOL in Ungarn Innovation und Nachhaltigkeit die Kernthemen für die Zukunft. So zeigt die LCA-Analyse von Evonik Active Oxygens, dass die modernen unternehmenseigenen Raffineriekomplexe, aus denen die Polyolanlage Propylen, Wasserstoff und Dampf bezieht, einen vergleichsweise geringen CO2-Fußabdruck aufweisen. Sie sind laut Kuehner „zwar fossilbasiert, aber sehr, sehr effizient“.
Mit der Polyolproduktion setzt das Unternehmen nicht nur auf ein Produkt, das Energiesparen unterstützt, der Konzern vertraut auch auf das HPPO-Verfahren als „umweltfreundlichste Technologie“, die es derzeit gibt. „MOL wird das einzige Unternehmen in Mittelosteuropa mit einer integrierten Wertschöpfungskette sein, die von der Rohölförderung bis zur Polyolproduktion reicht“, sagt Szűcs von MOL. „Das Produkt wird umweltfreundlich hergestellt, auch dank der nachhaltigen HPPO-Technologie von Evonik und thyssenkrupp Industrial Solutions.“